Meinung

Europas Achillesferse: Wird die Nordsee bald zu einem Kriegsschauplatz?

Deutschland und fünf andere Anrainer haben ein Abkommen zum Schutz der Unterwasserinfrastruktur in der Nordsee geschlossen. Die Region gilt als die infrastrukturelle Achillesferse der EU – aber wie die Sprengung der Nord-Stream-Pipeline gezeigt hat, ist es nicht Russland, vor der sie geschützt werden muss.
Europas Achillesferse: Wird die Nordsee bald zu einem Kriegsschauplatz?Quelle: www.globallookpress.com © Lars Penning/dpa

Von Viktoria Nikiforowa

Sechs NATO-Länder beschlossen plötzlich, die Nordsee "vor den Russen zu schützen" und unterzeichneten ein entsprechendes Abkommen. Warum dieses Abkommen? Was macht die Nordsee so schützenswert?

Aus wirtschaftlicher Sicht ist die Region in der Tat ein Leckerbissen. In den vergangenen Jahren wurde sie als Flaggschiff der Energiewende positioniert – es ist geplant, dort grünen Wasserstoff zu produzieren, riesige Windparks zu errichten und so "saubere" demokratische Energie zu erzeugen.

Aber auch die traditionellen "schmutzigen Kohlenwasserstoffe" werden von den Anrainerstaaten gefördert. Die wichtigsten Öl- und Gasproduzenten in der Nordsee sind Norwegen und Großbritannien, gefolgt von Deutschland und Dänemark. Norwegen pumpt so viel, dass es nicht nur sich selbst, sondern auch ein Viertel des gesamten europäischen Gasbedarfs deckt. Das Vereinigte Königreich deckt etwa 40 Prozent seines eigenen Bedarfs mit einheimischem Gas.

Russland hatte in der Nordsee ein eigenes Interesse, allerdings ein sehr bescheidenes. Seit 2020 förderte Gazprom hier gemeinsam mit dem deutschen Unternehmen Wintershell kleine Mengen Gas, und jetzt stehen diese Anlagen zum Verkauf. Mit anderen Worten: Die ehemaligen Partner haben die Russen unter Missachtung aller Vereinbarungen aus ihrem Sandkasten verdrängt.

Russland hat keinen Zugang zur Nordsee. Die Ostsee, die zu ihr führt, wird jetzt als "NATO-See" bezeichnet. Worin genau besteht also die russische Bedrohung, wenn es physisch nicht dort ist, und warum mussten die sechs Länder der Region – Großbritannien, Norwegen, Deutschland, Dänemark, Belgien und die Niederlande – so dringend einen separaten Vertrag zum "Schutz" der Nordsee abschließen?

Und hier ist es interessant, die Region unter militärischen Gesichtspunkten zu betrachten. In dieser Hinsicht ist die Nordsee wahrscheinlich die Achillesferse Europas. Hier verlaufen unzählige Öl- und Gaspipelines sowie Strom- und Internetkabel entlang des Meeresbodens.

Die Kohlenwasserstoffproduktion steigt von Jahr zu Jahr. Um die Produktion weiter zu steigern, ist der Bau von riesigen Windturbinen geplant. Der von diesen Windturbinen erzeugte Strom wird über Unterseekabel zu den Ölplattformen geleitet. Mithilfe der Energie aus den Windparks soll auch Wasserstoff produziert werden. Bis 2030 sollen allein in der Nordsee 120 Gigawatt aus Wind erzeugt werden – viermal mehr als heute. Die Investitionen dort belaufen sich auf eine Billion Euro.

Das schöne Meer, das Generationen von deutschen und englischen Romantikern inspiriert hat, soll zu einer riesigen Fabrik werden, die Energie (saubere oder schmutzige – das spielt keine Rolle) für ganz Europa erzeugt. Doch all diese Infrastrukturen sind äußerst zerbrechlich und verwundbar. Ein paar punktgenaue Unterwasserexplosionen und der Traum von der Energiesicherheit ist ausgeträumt.

Das soll nicht heißen, dass sich die beteiligten NATO-Länder nicht bewusst sind, auf welch gefährliches Unternehmen sie sich eingelassen haben. Die britische Presse ist voll von Hysterie über die Apokalypse, zu der die Beschädigung von Pipelines, Strom- und Internetkabeln in der Nordsee führen könnte.

In Häusern, Fabriken und Krankenhäusern wird das Licht ausgehen, Bankkarten werden nicht mehr funktionieren, die U-Bahn wird stillstehen, an Tankstellen und in Supermärkten wird das Benzin zur Neige gehen, empörte Menschen werden auf den Straßen randalieren – und all dieses Chaos kann lediglich durch ein paar punktuelle Schläge gegen die Nordsee-Infrastruktur verursacht werden. Angesichts der Abhängigkeit ganz Europas von der Produktion in der Nordsee ist es nicht schwer, dieses Chaos weiter zu extrapolieren – auf fast alle Länder des Kontinents.

Achtung – eine Frage: Wer hat es nötig, die Energiesicherheit Europas zu untergraben? Sicherlich nicht Russland: Es ist für Moskau nicht profitabel, in einen Konflikt mit dem NATO-Block zu geraten, und es hat auch nicht die Absicht, dies zu tun. Aber Washington braucht ein energieunabhängiges Europa überhaupt nicht. Wer wird dann amerikanisches LNG kaufen, wer wird die amerikanischen Stiefel küssen?

Der Hauptnutznießer der Unterbrechung der Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee waren die Vereinigten Staaten. Innerhalb weniger Minuten wurden die Europäer von den russischen Kohlenwasserstoffen abgeschnitten. Die Reaktion war eindeutig –die Europäer haben alles geschluckt. Fadenscheinige Untersuchungen der geschädigten Länder führten zu nichts. Inzwischen haben die Amerikaner einen Freibrief für neue Terroranschläge – auch schon für die Nordsee. Wenn die Vereinigten Staaten beschließen, dass die Europäer zu viel Energie selbst produzieren und amerikanisches Gas ablehnen können, steht der Alten Welt genau die Apokalypse bevor, die die britische Boulevardpresse so genüsslich beschreibt.

Was hat das mit den Russen zu tun? Sie waren es, die von den westlichen Medien beschuldigt wurden, Nord Stream zu sabotieren. Wenn in der Nordsee etwas passiert, werden wieder die Russen schuld sein. Heute wird jede Vorbeifahrt russischer Kriegsschiffe an den britischen Inseln mit ohrenbetäubendem Geschrei britischer Politiker quittiert: "Die Russen 'legen Sprengstoff auf den Meeresgrund', also rette sich, wer kann!"

Aber das russische Militär kann hier einfach nichts tun. Es sieht so aus, als ob die westlichen "Partner" ganz gut allein zurechtkommen: Sie werden ihre eigenen Terroranschläge organisieren, ihre eigene Infrastruktur untergraben und selbst für Chaos sorgen – es besteht kein Anlass für Russland, sich einzumischen.

Übersetzt aus dem RussischenDer Artikel ist am 10. April 2024 zuerst auf RIA Nowosti erschienen.

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