Meinung

"Störgefühl" Bürgergeld

Seit Wochen wird über die Höhe des Bürgergelds diskutiert, und natürlich ist die Erkenntnis zahlreicher Politiker und Medien, dass es zu hoch sei. Tatsächlich wird die Thematik bewusst von der falschen Seite angegangen.
"Störgefühl" BürgergeldQuelle: www.globallookpress.com

Von Tom J. Wellbrock 

Wer seinen Job wegen Bürgergeld kündigt, bekommt nicht zu viel Bürgergeld, sondern zu wenig Lohn. Es war ausgerechnet der SPD-Politiker Ralf Stegner, der das kürzlich sinngemäß in der Talkshow "Hart aber fair" sagte. Nachhall erfuhr seine Aussage aber nicht, denn das würde die spaltende Wirkung gefährden.

Tagesspiegel-Autorin mit Störgefühl

Die Autorin Karin Christmann vom Tagesspiegel ist wahrlich nichts Besonderes. Sie schiebt eine erneute Spaltung an, die einen weiteren Keil in die Gesellschaft treiben wird, wenn sie schreibt:

"In jedem Supermarkt, in jeder Tankstelle wird Personal gesucht. Gleichzeitig leben Millionen Menschen, die grundsätzlich sehr wohl arbeiten könnten, vom Bürgergeld. Das ist Kern des Störgefühls. Und es ist der große sachliche Unterschied zu den Debatten der frühen Hartz-IV-Jahre, die in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit geführt wurden."

Selbstverständlich gibt es nicht den geringsten Unterschied zu den früheren Hartz-IV-Jahren. Auch damals schon galten Millionen "Hartzer" als Faulpelze, die sich auf Kosten der Gesellschaft ein feines Leben erlauben. Und schon damals blieb die Frage offen, wer diese Millionen sind. Auch Christmann unterfüttert ihre Behauptung nicht mit Daten und Fakten, sie haut sie einfach mal so raus, prüft ja eh keiner nach. Weiter schreibt die Frau mit dem "Christkind" im Namen:

"Das Störgefühl ernst zu nehmen, es nicht einfach zur Herzlosigkeit zu erklären, das ist Populismus im guten Sinne. Und deshalb braucht es wieder mehr Härte gegenüber den tatsächlich Arbeitsunwilligen, ein Nachsteuern bei den Sanktionsmöglichkeiten. Wer nicht wegschaut, wo Menschen den Sozialstaat ausnutzen, der stärkt die Hilfsbereitschaft der Solidargemeinschaft für jene, die tatsächlich unverschuldet in Not sind."

Das schreit nach einer neuen Internetplattform, auf der man Menschen melden kann, die den Sozialstaat ausnutzen, diese Pranger-Seiten schießen ja schon seit Längerem wie die Demokratie vergiftende Pilze aus dem Boden. Sicher in diesem Fall eine gute Sache, schon, um den Beweis der Millionen Schmarotzer zu erbringen. Oder auch nicht.

Denn folgende Zahlen werden nur selten genannt:

"Die meisten [Bürgergeldempfänger] stammen aus der Ukraine, 703.933 ukrainische Staatsbürger beziehen Bürgergeld. Kurz danach folgen Menschen aus Syrien, von ihnen beziehen 501.806 Menschen die Sozialhilfe. Danach folgen die Türkei, mit 198.666 Bürgergeld-Beziehern, Afghanistan mit 182.672 und Irak mit 114.964. Besonders bei den Menschen aus der Ukraine ist ein starker Anstieg zu verzeichnen, der mit dem Krieg in ihrem Heimatland zusammenhängt: Im Vergleich zum Vorjahr bezogen 2023 fast 45 Prozent mehr ukrainische Staatsbürger Bürgergeld in Deutschland."

Nun könnte man an dieser Stelle weitermachen mit Zahlen, Daten, Fakten, und man könnte sicherlich diese ganzen Faulenzer punktgenau nach Herkunft, Alter, Geschlecht, Hobbys, Sommersprossen und Hitzepickel kategorisieren. Die Folge allerdings wäre mehr Futter für die gesellschaftliche Spaltung.

Sprechen wir stattdessen also lieber über das Übel, das so gern ausgeklammert wird.

Lohn, Abstand und das Gebot der Hetze

Menschen in Arbeit müssen aufstocken, auf "Gegen-Hartz-IV" lesen wir:

"In Deutschland beziehen rund 5,1 Millionen Menschen Bürgergeld. Neben ihrer Erwerbstätigkeit beziehen 860.000 Arbeitnehmer Sozialleistungen. Rund 476.000 von ihnen müssen ihren Lohn mit Bürgergeld aufstocken."

Hier liegt der Hase im Pfeffer! Kehren wir also zurück zu Ralf Stegner und seinen Worten über höhere Löhne. Und gehen wir davon aus, dass das Lohnabstandsgebot durchaus eine sinnvolle Sache ist. In der öffentlichen Debatte folgt daraus, das Bürgergeld sei zu hoch, weil es Leute gebe, die mit ihrem Job nur unwesentlich mehr verdienen als diese "Stütze" und daher lieber aufs Arbeiten verzichten.

Sollte das in Einzelfällen wirklich stimmen, muss man konstatieren: Recht haben sie! Wer einen Vollzeitjob ausübt und mit seinem Gehalt nur wenig mehr bekommt als der Bezieher des Bürgergeldes, sollte seine Arbeitskraft nicht weiter verschenken. Wer das Lohnabstandsgebot ernst nimmt, muss mit aller Kraft für bessere Löhne kämpfen, nicht für weniger Bürgergeld.

Auch die dreiste Behauptung, Empfänger von Bürgergeld würden sich einen bunten Tag machen und das Leben in Faulheit genießen, ist realitätsfern und kann nur von jemandem kommen, der nebenbei bei Käse und Wein smoothen Jazz hört und über alte Philosophen grübelt oder ein Tempolimit auf der Milchstraße fordert.

Früher, in dieser verdammten guten alten Zeit – die Älteren werden sich erinnern – konnte ein Familienvater von seinem Gehalt seine Familie ernähren, inklusive ein- bis zweimal im Jahr Urlaub, und am Wochenende ging es mit dem Renault zum Campingplatz, wo man die Seele baumeln ließ, Tischtennis spielte und abends mit den anderen Campingfreunden dicke Steaks auf den Grill warf.

Das war kein besonderes Leben, es war schlicht, aber vollkommen ausreichend für die meisten Menschen. Doch wer heute auch nur mit ein wenig Wehmut an diese Zeit (und diese Löhne!) zurückdenkt, macht sich verdächtig, den Menschen "falsche Anreize" in den Kopf zu pflanzen, spätrömische Dekadenz zu predigen und die "Solidargemeinschaft" zu missbrauchen.

Nein, und nochmals nein, das Bürgergeld ist nicht zu hoch, die Löhne sind nahezu flächendeckend zu niedrig! Das mag noch gut gegangen sein, als Deutschland Exportweltmeister war und auf den Binnenmarkt pfeifen konnte. Doch das ist vorbei, und wer dabei ist, mit vollem Tempo die Volkswirtschaft gegen die Wand zu fahren, mag es strategisch klug finden, den Menschen immer weniger Geld für ihren Lebensunterhalt und -erhalt zur Verfügung zu stellen.

Am Ende aber wird selbst die weitere erfolgreiche Spaltung der Gesellschaft und sogar eine theoretisch denkbare Reduzierung des Bürgergeldes nicht zu Besserung führen. Im Gegenteil, der Verfall wird lediglich beschleunigt, und im besten Fall begreifen die Menschen irgendwann auch noch, dass es keinen Kampf "Niedriglöhner gegen Bürgergeldempfänger" braucht, sondern einen gegen die, die jene Spaltung bewusst vorantreiben.

Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.

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